Gesund mit Felix (6): Warum Kräftigungsübungen bei Verspannungen oft das Gegenteil bewirken
Die Gesundheitskolumne von Osteopath Felix Kammerlander (Folge 6)
Viele Menschen, die unter wiederkehrenden Muskelverspannungen leiden, versuchen, das Problem mit mehr Bewegung oder gezieltem Krafttraining zu lösen. Der Gedanke klingt logisch: Wenn der Rücken oder der Nacken verspannt ist, muss die Muskulatur eben stärker werden – dann stabilisiert sich alles, und die Beschwerden gehen weg. Doch dieser Ansatz greift oft zu kurz. Denn Verspannungen sind kein Zeichen von Muskelschwäche, sondern ein Ausdruck von zu hoher Muskelspannung. Wer in solchen Phasen zusätzlich Krafttraining betreibt, kann die Beschwerden sogar unbewusst verstärken.
Damit dein Körper sich bewegen kann, hält das Nervensystem ständig einen bestimmten Grundtonus in den Muskeln aufrecht. Diese Spannung sorgt dafür, dass du nicht in dich zusammensackst, sondern jederzeit bewegungsbereit bist.
Bei Stress, Überlastung oder Fehlhaltungen kann dieser Tonus jedoch zu hoch werden – der Muskel „lässt nicht mehr los“. Das Ergebnis ist das bekannte Spannungsgefühl: steife Schultern, ein druckempfindlicher Nacken, ein verspannter Rücken.
Wichtig ist zu verstehen: Diese Spannung entsteht nicht, weil der Muskel zu schwach ist, sondern weil das Nervensystem zu viel Aktivität an diesen Muskel sendet. Der Körper „überhält“ die Spannung.
Warum Kräftigungsübungen hier wenig helfen
Wenn du in einer solchen Situation Krafttraining machst, fordert das Nervensystem die Muskulatur zu noch mehr Aktivität auf. Das kann in gesunden, entspannten Bereichen sinnvoll sein – in überlasteten oder dauerhaft gespannten Arealen aber kontraproduktiv.
Ein Beispiel: Wenn deine Nackenmuskulatur ohnehin ständig unter Spannung steht, wird jede zusätzliche Belastung (z. B. durch Gewichte oder viele Wiederholungen) als „Mehrarbeit“ registriert. Die Muskulatur ermüdet, aber sie lernt nicht zu entspannen– im Gegenteil, sie bekommt das Signal, noch leistungsbereiter zu bleiben.
Das ist einer der Gründe, warum viele Menschen trotz regelmäßigem Training keine Besserung spüren, sondern eher das Gefühl haben, dass ihre Muskeln „immer zu“ bleiben.
Das Ziel: Spannung regulieren, nicht steigern
Bei chronischen Verspannungen geht es also in erster Linie darum, die Muskelspannung zu normalisieren. Dafür braucht der Körper kein zusätzliches Kraftsignal, sondern Reize, die Sicherheit, Ruhe und Bewegungsfreiheit vermitteln. Dazu gehören:
- Sanfte Dehnung: Sie sendet dem Nervensystem das Signal, dass keine Gefahr besteht und der Muskel loslassen darf.
- Mobilisation: Fließende, rhythmische Bewegungen verbessern die Durchblutung und aktivieren die natürlichen Regulationsmechanismen der Muskulatur.
- Wärme: Unterstützt die Durchblutung, reduziert Muskeltonus und fördert das Loslassen.
- Atmung und Entspannung: Langsames, tiefes Atmen oder kleine Pausen mit bewusster Wahrnehmung helfen dem Nervensystem, die Spannung zu senken.
Diese Reize wirken indirekt auf das Nervensystem – und dort wird die Spannung reguliert, nicht im Muskel selbst.
Wann Kräftigung trotzdem wichtig ist
Natürlich heißt das nicht, dass Krafttraining grundsätzlich schlecht ist. Im Gegenteil: Eine stabile, gut trainierte Muskulatur schützt langfristig vor Überlastung.
Der entscheidende Punkt ist der Zeitpunkt.
Solange eine Muskulatur in einer chronisch erhöhten Spannung steckt, sollte sie zuerst lernen loszulassen, bevor sie wieder gezielt gekräftigt wird.
Erst wenn die Beweglichkeit, Elastizität und Lockerheit zurückgekehrt sind, kann Krafttraining sinnvoll eingesetzt werden, um die neue Balance zu stabilisieren.
So wird aus Krafttraining dann auch tatsächlich ein Instrument zur Gesundheit – nicht zur Verstärkung bestehender Spannungen.
Das Nervensystem als Schlüssel
Viele unterschätzen, wie stark das Nervensystem die Muskelspannung beeinflusst. Stress, Schlafmangel, seelische Belastung oder innere Unruhe können dazu führen, dass der Körper dauerhaft in einem „Alarmmodus“ bleibt.
Selbst wenn du dich körperlich ruhig verhältst, hält das Gehirn die Muskulatur in Bereitschaft – als würde es sagen: „Bleib wachsam, etwas stimmt nicht.“
Diesen Zustand kann man nicht „heraus trainieren“. Er braucht Signale der Sicherheit – langsame Bewegungen, bewusste Atmung, Wärme, Dehnung, Pausen. Genau diese Signale sagen deinem Nervensystem: „Alles in Ordnung, du darfst entspannen.“
Kleine Orientierung für zuhause
Wenn du also selbst aktiv werden möchtest, beachte folgende Grundregeln:
- Nicht gegen den Schmerz trainieren. Wenn eine Bewegung Spannung oder Druck erzeugt, geh einen Schritt zurück und reduziere die Intensität.
- Langsam beginnen. Ein paar Minuten sanfte Mobilisation oder Atembewegung wirken nachhaltiger als eine anstrengende Trainingseinheit.
- Achte auf das Gefühl nach der Übung. Fühlst du dich leichter, freier, ruhiger – oder angespannter und müder? Nur Ersteres ist ein Zeichen, dass dein Nervensystem entspannt.
- Wechsle von Spannung zu Entspannung. Kleine, bewusste Wechsel (z. B. Anspannen – Lösen – Atmen) helfen, die Spannungsregulation zu trainieren.
Zusammengefasst...
Verspannungen sind kein Zeichen mangelnder Kraft, sondern ein Hinweis auf ein Ungleichgewicht in der Spannungskontrolle. Wer versucht, sie durch mehr Krafttraining zu „besiegen“, fordert das Nervensystem nur weiter heraus.
Langfristig erfolgreicher ist es, zuerst Ruhe und Beweglichkeit in die betroffenen Bereiche zu bringen – durch Dehnung, Mobilisation, Wärme und bewusste Entspannung.
Erst wenn sich die Spannung normalisiert hat, kann gezieltes Kräftigungstraining den Körper wirklich stabilisieren.
© Felix Kammerlander / Praxis Angewandte Osteopathie
Der Autor

Felix Kammerlander hat Osteopathie studiert und betreibt seit acht Jahren die Praxis Angewandte Osteopathie in Marxheim. Ab sofort erscheint hier regelmäßig seine Kolumne „Gesund mit Felix” mit Gesundheitsinformationen und präventiven Tipps - eine verlässliche Anlaufstelle für Ratschläge zur Vorbeugung, Schmerzbewältigung und für einen ausbalancierten Körper. Viel Freude beim Lesen und Ausprobieren neuer Wege zu mehr Wohlbefinden!

